Samstag, 15. Oktober 2011

Wöchentliches Glutlicht.

Ich erinnere mich noch gut an den Eingang von Karstadt.
Von draußen kommend, ebneten weiße, schwere Türen den Weg in den Zwischengang, der mich als Besucher an dekorierten Schaufenstern zum eigentlichen Eingang schleuste. Die Schaufenster ließen mich ahnen, was der modische Trend der für mich damals älteren Damen – jahreszeitenabhängig –sein   mochte. Häufig sind es lila bis brombeerfarbige Oberteile, an die ich mich erinnere. Versehen mit schwarzen Applikationen, schimmerten sie durch die Glaswand. Die Dekorationspuppen blickten ins Leere. Manchmal hatten sie keine Gesichter.
Als ich kleiner war, stellten die Eingangstüren eine Herausforderung für mich dar. Weiß wie Krankenhaustüren waren sie. Zumeist musste ich meinen ganzen Körper gegen das rechteckige Portal drücken, damit es aufging. Ab und an hatte ich das Gefühl, dass meine Eltern mir halfen. Beweisen kann ich es nicht. Karstadt war für mich ein Erlebnis. Zuallererst lief ich in die Schreibwarenabteilung im Erdgeschoss. Der bekannte Geruch von Papier, Tinte, Radiergummis und Bleistiften löste in mir ein Gefühl des Wohlseins aus. Karstadt beherbergte alle Schätze, die mir zum damaligen Zeitpunkt wichtig erschienen. Während meine Eltern in der Haushaltswarenabteilung stöberten, erkundete ich mit meinem Bruder die Spielwaren in der ersten Etage. Ab und zu schlichen wir uns zu faszinierend funkelnden Kristallen, deren Form sich in Schiffen, Blumen oder Tieren zum Ausdruck brachte. Ich wollte immer eines besitzen, am liebsten ein kleines Schiff, das ich in mein Regal gestellt hätte.
Zu Karneval erfreute ich mich an der für die Jecken hergerichteten Abteilung. Überall lagen Masken, Schwerter, Kostüme. Sowieso waren anstehende Festakte das Highlight. Ich tauchte ein in die Atmosphäre kürzlich anstehender Feste, vergaß Pflichten und übersah an manchen Tagen die Realität. Ich teilte mit meinem Bruder die Freude zum Erkunden, wir ließen unsere Finger gleiten über Plastik, Stoff und Filz. Fuhren Rolltreppen nach oben, nach unten. Wir träumten. Wir träumten nicht von materialisierten Dingen. Auch, wenn ab und an Tränen wegen etwas Dortgebliebenem rollten. Wir träumten von Geschichten, Ereignissen. Nahmen Bären mit auf die Reise, Skateboards, kleine Tiere aus Plastik, die den Weg vorgaben. Wir verkörperten das, was man im Nachhinein als Unbekümmertheit bezeichnet.
Als ich älter wurde und mit meinen Freundinnen in größere Städte fahren durfte, verließ mich der Reiz von Karstadt. Ich erkannte, dass es eigene, für sich stehende Markengeschäfte gab. Meine Wahrnehmung dezentralisierte sich. Eigens erfundene Geschichten, die ich mit meinem Bruder immer wieder erlebte, verflachten, bis sie schließlich ganz aufhörten und nur in Erinnerungen auflebten.
Als ich letztens zu Karstadt ging, kam es wieder. Das Gefühl des Bekannten. Der Geruch von Schreibwarenartikel, der Wunsch noch einmal Klein zu sein.
Denn wenn ich jetzt an Karstadt denke, dem Prunkstück der BRD, fällt mir Marc Augé ein, sein Begriff der Nicht-Orte, Insolvenz, Stellenabbau. Es fällt mir schwer, Geschichten zu spannen, in denen nicht die Realität Platz findet. Denn die Realität hat mich so ummantelt, dass ich, wenn ich meine Augen schließe, weiß: Karstadt gibt es für viele Junge nicht mehr.

Freitag, 7. Oktober 2011

Wöchentliches Glutlicht.

Ronald Pofalla hat es nicht leicht. Der ambitionierte Kanzleramtschef  und enger Vertrauter Merkels muss  nach der verbalen Entgleisung gegenüber seinem Parteikollegen Wolfgang Bosbach von allen Seiten Rüffel einstecken. Medial versteht sich. Dabei könnte man meinen, dass interne Reibereien, sowohl innerhalb der Partei als auch in der Koalition, aufgrund der Redefreiheit zur Tagesordnung im Bundestag gehören. Der Nährboden funktionierender Demokratie umfasst schließlich Debatten und nervenaufreibende Konsenssuchen, um eine gemeinsame Programmatik zu bewerkstelligen.
Ronald Pofalla hingegen übersprang den gesunden Ton einer internen Diskussion und diskreditierte seinen Kollegen Bosbach auf eine verbal platte wie ernüchternde Art und Weise. Das unangenehme für Pofalla ist indes nicht seine Handlung. Es ist die Tatsache, dass sein Streitzug über die Bundestagsräume hinaus zu den Medien gelang.  Nach dem wochenlangen Gezerre um den Rettungsschirm, präzisiert sein Verhalten den Eindruck einer durch und durch zerwühlten Koalition. Größeres Übel versuchte Pofalla just mit einer Stellungnahme in der Bildzeitung zu beschwichtigen. Für viele ein seichter Versuch, Wasser auf die Glut zu kippen –dem Wählerschwund hat die Versöhnungsaktion vermutlich keinen Abbruch getan. Der Kanzlerin wird die Entgleisung unangenehm aufgestoßen haben. Nicht, weil menschliche Fehler nicht auftreten, sondern weil Pofallas Verbalattacken zwei Deutungen ermöglichen:
Entweder nutze jener Verbales zur Katharsis, oder es ist endgültig deutlich geworden: dem sinkenden Schiff bricht so langsam das Steuerbord.                      

Donnerstag, 6. Oktober 2011

Gedenken an Auschwitz

Aber kein Mensch mehr als der Wagen vorbeischnellt am Rande nordwestlicher Stürme, pechschwarz, bis der Fahrtwind atmet und der Dunst brodelnder Schornsteine sich ergießt in den Himmel, regenschwer, als ob der Erdball atme im Trane kilometerweiter Gewitterwolken.
          Kurz nachdem hältst du mir deine Hand entgegen. Offen, vor brodelndem Groß, bis deine Laute sich aufblähen und vergehen, so schnell wie sie kamen, abseits nun regenschwerer Häuserwände.
          Ich sehe dich zum ersten Mal. Während wir Baumalleen passieren, eine lange Gerade in der Peripherie, erwachst du, bildest dich als optisches Destillat des Gesagten, Gelesenen. Ich sehe Mast, Bug, Rehling. Wärst du ein Schiff, würdest du mit einem Bauch der Geschichte havariert sein. Dein Mast der Stadt wäre nicht – wie Baudrillard sagt –der Glockenturm, so laut er tönt und vereint. Es wäre das unfassbar Sprachlose, die Sprachlosigkeit, weil du warst und immer noch, wenn auch nur physisch, existierst. Ein Mast, der jegliche Werte nivelliert, an die nicht nur ich zu glauben pflege.
          Ich betrete dich also, deinen Bug, spüre Festland unter meinen Füßen. Größe und Ausmaße – du gleichst einer Kleinstadt, die den Boden für sich beschlagnahmt, gleichwohl der Opfer, über die du hinwegsahst und die meiner Füße Ketten sind.
          Ich sehe dich, ein Zaunland bist du. Sie stärken deine Präsens, lassen sie wachsen, deine Machtfülle, schlängeln sich durch das Gelände und ziehen das Korsett der Despotie unaufhörlich enger. Dein Bug, ein meterhoher Wachturm, beginnt mit dem Wind zu gleiten, lebten wir hier, wären wir immun gegen Wind und Sturm, weil wir ausharrten, innerlich ertrinken würden, ihr Despoten als der Transporter kam und ihr entschiedet.
          Von oben betrachtet stehst du still. Regungslos, erfroren. Du bist kein Teil von dem Ort, in dem du weilst. Bäume und Wälder anonymisieren dich, gleichwohl der Nacht, die dich verschluckt im schwarzen Mantel. Teilnahmslos bist du als wärst du satt vom sein, unbeirrt von der Autokolonne außerhalb deiner, ein Akkordeons zäher Fluss, das ein Trauerspiel intoniert.
          An der Reling grollt der lichterleichte Himmel. Wenn ich wollte, könnte ich dich verlassen, denn wir sind nicht auf hoher See, keine Windböe kreist um meine Wangen. Doch damit ich weiß, dass du warst, muss ich sehen, dass du bist. Gleisen, Kasernen, Warnschilder, Dunkelkammern. Deine Fratze aus Habseligkeiten und Devotionalien, Schweigen, Missgunst und Neid. Zweifelnd an menschlichem Tun, an dem wohlgeformten Ritus der Zeit, während ich an H. Arendt denke.
          Ich erkunde dich, du trägst mich. Still und unbarmherzig greifst du nach mir. Du entblätterst Worte, Taten, Mauern und Zäune. Verschleierst, meuterst, bis der Wind ganz still am Gedenkstein ruht und du behäbig, schwer vom Schein in die Schlucht mäanderst. Worte verschweigen Taten, doch du offenbarst an Mauern und Steinen, was die Ruhe abseits verschwiegen hat.
         Entlang restaurierter Fassaden wirkst du seltsam zivil, das Symbolschild deiner physischen Heimat bewegt sich stoisch im Winde. Polen, rot-weiß, eine Kerbe menschlichen Ermessens, so als komme der Morgen hier jede Stunde, je mehr man eintaucht in dein Gebilde.
          Warum waren wir sprachlos? Warum waren wir arm an Courage und reich an Angst? Warum die Frage des warum so viel später als die Glut schon fast erlosch? Und warum jetzt noch schweigen, wenn der Laut der Liturgie zu uns dringen vermag?              
          Im Dickicht  ermatteter Worthülsen, wer achtet auf uns, wir, die in der Verantwortung stehen, teils allein im Kreisel der Moderne? Wir erkennen, dass Sprache verstummen kann. Einst am Morgen, so hilflos und zart, ohne Sprachrohr, voller Aderlass.
         Wer achtet auf uns in diesem Aufklärungsprozess?
          Die Schuldfrage ist auf jeden Stein gemeißelt, den du trägst. Sie brüskiert dich nicht, sie ist dein Windfang, dein Schiffsgeist, des hohen Sees Gefährte. Durchfegt Bug, Reling, Kajüten und Kojen, immerwährend und trotzend des physischen Zerfalls gebeutelter Beine. Sie ist dein Warnsignal, unser Überbleibsel. Sie ist mir näher als du, ein Anker zum Narrativen. Ein Menetekel im Überseeland. Sei uns eine Warnung.
         Du bist nicht das, was du meinst zu sein. Du nährst uns mit Vorsicht. Du bist ein verklebtes Gebilde, eine fluchtsichere Festung auf hoher See. Bestehend aus Illusionen, Verzweiflung, sprachloser Historie. Du symbolisierst die unfassbaren Gräueltaten eines historisch einmaligen Ereignisses menschlicher Fehlhandlung. Du bist nicht die See, Konzentrationslager Auschwitz. Du bist Mahnmal und Schreckensgespenst zugleich.
          Du zählst 1,6 Millionen Opfer. Juden, Zigeuner, Homosexuelle, Opponenten.
          Unwirklich, aber wahr. Gedenke deiner Sterblichkeit, nur ich aber, ich werde gehen, bis irgendwann dein Rumpf nicht mehr wackelt.