Aber kein Mensch mehr als der Wagen
vorbeischnellt am Rande nordwestlicher Stürme, pechschwarz, bis der Fahrtwind
atmet und der Dunst brodelnder Schornsteine sich ergießt in den Himmel,
regenschwer, als ob der Erdball atme im Trane kilometerweiter Gewitterwolken.
Kurz nachdem hältst du mir deine Hand entgegen. Offen, vor brodelndem
Groß, bis deine Laute sich aufblähen und vergehen, so schnell wie sie kamen,
abseits nun regenschwerer Häuserwände.
Ich sehe dich zum ersten Mal. Während wir Baumalleen passieren, eine
lange Gerade in der Peripherie, erwachst du, bildest dich als optisches
Destillat des Gesagten, Gelesenen. Ich sehe Mast, Bug, Rehling. Wärst du ein
Schiff, würdest du mit einem Bauch der Geschichte havariert sein. Dein Mast der
Stadt wäre nicht – wie Baudrillard sagt –der Glockenturm, so laut er tönt und vereint. Es
wäre das unfassbar Sprachlose, die Sprachlosigkeit, weil du warst und immer
noch, wenn auch nur physisch, existierst. Ein Mast, der jegliche Werte
nivelliert, an die nicht nur ich zu glauben pflege.
Ich betrete dich also, deinen Bug, spüre Festland unter meinen Füßen.
Größe und Ausmaße – du gleichst einer Kleinstadt, die den Boden für sich
beschlagnahmt, gleichwohl der Opfer, über die du hinwegsahst und die meiner
Füße Ketten sind.
Ich sehe dich, ein Zaunland bist du. Sie stärken deine Präsens, lassen
sie wachsen, deine Machtfülle, schlängeln sich durch das Gelände und ziehen das
Korsett der Despotie unaufhörlich enger. Dein Bug, ein meterhoher Wachturm,
beginnt mit dem Wind zu gleiten, lebten wir hier, wären wir immun gegen Wind
und Sturm, weil wir ausharrten, innerlich ertrinken würden, ihr Despoten als
der Transporter kam und ihr entschiedet.
Von oben betrachtet stehst du still. Regungslos, erfroren. Du bist kein
Teil von dem Ort, in dem du weilst. Bäume und Wälder anonymisieren dich,
gleichwohl der Nacht, die dich verschluckt im schwarzen Mantel. Teilnahmslos
bist du als wärst du satt vom sein, unbeirrt von der Autokolonne außerhalb deiner,
ein Akkordeons zäher Fluss, das ein Trauerspiel intoniert.
An der Reling grollt der lichterleichte Himmel. Wenn ich wollte, könnte
ich dich verlassen, denn wir sind nicht auf hoher See, keine Windböe kreist um
meine Wangen. Doch damit ich weiß, dass du warst, muss ich sehen, dass du bist.
Gleisen, Kasernen, Warnschilder, Dunkelkammern. Deine Fratze aus Habseligkeiten
und Devotionalien, Schweigen, Missgunst und Neid. Zweifelnd an menschlichem
Tun, an dem wohlgeformten Ritus der Zeit, während ich an H. Arendt denke.
Ich erkunde dich, du trägst mich. Still und unbarmherzig greifst du nach
mir. Du entblätterst Worte, Taten, Mauern und Zäune. Verschleierst, meuterst,
bis der Wind ganz still am Gedenkstein ruht und du behäbig, schwer vom Schein
in die Schlucht mäanderst. Worte verschweigen Taten, doch du offenbarst an
Mauern und Steinen, was die Ruhe abseits verschwiegen hat.
Entlang restaurierter Fassaden wirkst du seltsam zivil, das Symbolschild
deiner physischen Heimat bewegt sich stoisch im Winde. Polen, rot-weiß, eine
Kerbe menschlichen Ermessens, so als komme der Morgen hier jede Stunde, je mehr
man eintaucht in dein Gebilde.
Warum waren wir sprachlos? Warum waren wir arm an Courage und reich an
Angst? Warum die Frage des warum so viel später als die Glut schon fast
erlosch? Und warum jetzt noch schweigen, wenn der Laut der Liturgie zu uns
dringen vermag?
Im Dickicht ermatteter
Worthülsen, wer achtet auf uns, wir, die in der Verantwortung stehen, teils
allein im Kreisel der Moderne? Wir erkennen, dass Sprache verstummen kann.
Einst am Morgen, so hilflos und zart, ohne Sprachrohr, voller Aderlass.
Wer achtet auf uns in diesem Aufklärungsprozess?
Die Schuldfrage ist auf jeden Stein gemeißelt, den du trägst. Sie
brüskiert dich nicht, sie ist dein Windfang, dein Schiffsgeist, des hohen Sees
Gefährte. Durchfegt Bug, Reling, Kajüten und Kojen, immerwährend und trotzend
des physischen Zerfalls gebeutelter Beine. Sie ist dein Warnsignal, unser
Überbleibsel. Sie ist mir näher als du, ein Anker zum Narrativen. Ein Menetekel
im Überseeland. Sei uns eine Warnung.
Du bist nicht das, was du meinst zu sein. Du nährst uns mit Vorsicht. Du
bist ein verklebtes Gebilde, eine fluchtsichere Festung auf hoher See.
Bestehend aus Illusionen, Verzweiflung, sprachloser Historie. Du symbolisierst
die unfassbaren Gräueltaten eines historisch einmaligen Ereignisses
menschlicher Fehlhandlung. Du bist nicht die See, Konzentrationslager Auschwitz.
Du bist Mahnmal und Schreckensgespenst zugleich.
Du zählst 1,6 Millionen Opfer. Juden, Zigeuner, Homosexuelle,
Opponenten.
Unwirklich, aber wahr. Gedenke deiner Sterblichkeit, nur ich aber, ich
werde gehen, bis irgendwann dein Rumpf nicht mehr wackelt.
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