Donnerstag, 6. Oktober 2011

Gedenken an Auschwitz

Aber kein Mensch mehr als der Wagen vorbeischnellt am Rande nordwestlicher Stürme, pechschwarz, bis der Fahrtwind atmet und der Dunst brodelnder Schornsteine sich ergießt in den Himmel, regenschwer, als ob der Erdball atme im Trane kilometerweiter Gewitterwolken.
          Kurz nachdem hältst du mir deine Hand entgegen. Offen, vor brodelndem Groß, bis deine Laute sich aufblähen und vergehen, so schnell wie sie kamen, abseits nun regenschwerer Häuserwände.
          Ich sehe dich zum ersten Mal. Während wir Baumalleen passieren, eine lange Gerade in der Peripherie, erwachst du, bildest dich als optisches Destillat des Gesagten, Gelesenen. Ich sehe Mast, Bug, Rehling. Wärst du ein Schiff, würdest du mit einem Bauch der Geschichte havariert sein. Dein Mast der Stadt wäre nicht – wie Baudrillard sagt –der Glockenturm, so laut er tönt und vereint. Es wäre das unfassbar Sprachlose, die Sprachlosigkeit, weil du warst und immer noch, wenn auch nur physisch, existierst. Ein Mast, der jegliche Werte nivelliert, an die nicht nur ich zu glauben pflege.
          Ich betrete dich also, deinen Bug, spüre Festland unter meinen Füßen. Größe und Ausmaße – du gleichst einer Kleinstadt, die den Boden für sich beschlagnahmt, gleichwohl der Opfer, über die du hinwegsahst und die meiner Füße Ketten sind.
          Ich sehe dich, ein Zaunland bist du. Sie stärken deine Präsens, lassen sie wachsen, deine Machtfülle, schlängeln sich durch das Gelände und ziehen das Korsett der Despotie unaufhörlich enger. Dein Bug, ein meterhoher Wachturm, beginnt mit dem Wind zu gleiten, lebten wir hier, wären wir immun gegen Wind und Sturm, weil wir ausharrten, innerlich ertrinken würden, ihr Despoten als der Transporter kam und ihr entschiedet.
          Von oben betrachtet stehst du still. Regungslos, erfroren. Du bist kein Teil von dem Ort, in dem du weilst. Bäume und Wälder anonymisieren dich, gleichwohl der Nacht, die dich verschluckt im schwarzen Mantel. Teilnahmslos bist du als wärst du satt vom sein, unbeirrt von der Autokolonne außerhalb deiner, ein Akkordeons zäher Fluss, das ein Trauerspiel intoniert.
          An der Reling grollt der lichterleichte Himmel. Wenn ich wollte, könnte ich dich verlassen, denn wir sind nicht auf hoher See, keine Windböe kreist um meine Wangen. Doch damit ich weiß, dass du warst, muss ich sehen, dass du bist. Gleisen, Kasernen, Warnschilder, Dunkelkammern. Deine Fratze aus Habseligkeiten und Devotionalien, Schweigen, Missgunst und Neid. Zweifelnd an menschlichem Tun, an dem wohlgeformten Ritus der Zeit, während ich an H. Arendt denke.
          Ich erkunde dich, du trägst mich. Still und unbarmherzig greifst du nach mir. Du entblätterst Worte, Taten, Mauern und Zäune. Verschleierst, meuterst, bis der Wind ganz still am Gedenkstein ruht und du behäbig, schwer vom Schein in die Schlucht mäanderst. Worte verschweigen Taten, doch du offenbarst an Mauern und Steinen, was die Ruhe abseits verschwiegen hat.
         Entlang restaurierter Fassaden wirkst du seltsam zivil, das Symbolschild deiner physischen Heimat bewegt sich stoisch im Winde. Polen, rot-weiß, eine Kerbe menschlichen Ermessens, so als komme der Morgen hier jede Stunde, je mehr man eintaucht in dein Gebilde.
          Warum waren wir sprachlos? Warum waren wir arm an Courage und reich an Angst? Warum die Frage des warum so viel später als die Glut schon fast erlosch? Und warum jetzt noch schweigen, wenn der Laut der Liturgie zu uns dringen vermag?              
          Im Dickicht  ermatteter Worthülsen, wer achtet auf uns, wir, die in der Verantwortung stehen, teils allein im Kreisel der Moderne? Wir erkennen, dass Sprache verstummen kann. Einst am Morgen, so hilflos und zart, ohne Sprachrohr, voller Aderlass.
         Wer achtet auf uns in diesem Aufklärungsprozess?
          Die Schuldfrage ist auf jeden Stein gemeißelt, den du trägst. Sie brüskiert dich nicht, sie ist dein Windfang, dein Schiffsgeist, des hohen Sees Gefährte. Durchfegt Bug, Reling, Kajüten und Kojen, immerwährend und trotzend des physischen Zerfalls gebeutelter Beine. Sie ist dein Warnsignal, unser Überbleibsel. Sie ist mir näher als du, ein Anker zum Narrativen. Ein Menetekel im Überseeland. Sei uns eine Warnung.
         Du bist nicht das, was du meinst zu sein. Du nährst uns mit Vorsicht. Du bist ein verklebtes Gebilde, eine fluchtsichere Festung auf hoher See. Bestehend aus Illusionen, Verzweiflung, sprachloser Historie. Du symbolisierst die unfassbaren Gräueltaten eines historisch einmaligen Ereignisses menschlicher Fehlhandlung. Du bist nicht die See, Konzentrationslager Auschwitz. Du bist Mahnmal und Schreckensgespenst zugleich.
          Du zählst 1,6 Millionen Opfer. Juden, Zigeuner, Homosexuelle, Opponenten.
          Unwirklich, aber wahr. Gedenke deiner Sterblichkeit, nur ich aber, ich werde gehen, bis irgendwann dein Rumpf nicht mehr wackelt. 

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