Donnerstag, 5. Januar 2012

Ein Sack voller Möglichkeiten.

Zwischenzeitlich wird es laut im Raum. Mein Vater spricht von Möglichkeiten, ich aber wünsche mir, seine Gedankenfetzen in einen Karton packen zu können, ihn öffnungssicher in den Abstellraum zu hieven und vorerst nicht wieder zu öffnen. Möglichkeiten.

Mit einem guten Abitur hast du einige profitable Türen, die offen stehen, sagt er. Ich drehe mich um, schaue aus dem Fenster. Weiche seinen Augen aus. Oder vielleicht meiner Antwort auf eine Frage, die er nur indirekt gestellt hat.
Welcher Studiengang ist krisensicher? Welcher verspricht gute Jobchancen auf dem Arbeitsmarkt? Und mit welchem krebse ich nach meinem Studium nicht herum im Jobnirvana?
 
Zwei Jahre später studiere ich Soziologie und Medienwissenschaften. Die Studiengangwahl war eine Bauchentscheidung. Denken möchte ich im Studium. Nicht nur Vokabeln auswendig lernen oder Grammatik pauken. Ich beschäftige mich mit Foucault, Butler. Rundfunkanstalten oder Social Media. Langsam begreife ich die Komplexität des Seins, der Politik, der Wirtschaft. Und ich erkenne, dass mein Vater in Bezug auf meine Studiengangwahl rational argumentiert hat. Mit einem guten Abitur den besten Nutzen ziehen. Ökonomisch. Nicht jetzt, aber später.

Nach der Schulbildung hat mein Vater eine Ausbildung absolviert und bei einem großen Autohersteller Fuß gefasst. Seitdem arbeitet er dort. 25 Jahre, in denen er jeden Morgen um halb sechs aufsteht. Er hat trotz seines Hauptschulabschlusses eine gute Stelle bekommen und mit der Unterstützung meiner Mutter eine fünfköpfige Familie ernähren können. Vielleicht heißt sein Damoklesschwert Rationalität.

Mein Damoklesschwert indes ist die Ungewissheit. Es wird schwer für euch beruflich Fuß zu fassen, sagte mein Vater einmal. Ich weiß das. Noch unwohler wird mir allerdings bei dem Gedanken, vielleicht nicht für meine Eltern sorgen zu können, wenn sie ins Alter kommen. Ihnen nicht die Zeit zu geben, die sie mir während meines Studiums in unterschiedlichen Handlungen schenken.

Die Erhöhung des Renteneintrittsalters, das nun in Kraft getreten ist, stellt dabei einen Teil meiner Ungewissheit dar. Denn auf eine staatliche Rente werde ich mich nicht stützen können. Zu groß ist die Skepsis, mit 67 Jahren noch voll im Beruf zu stehen. Vor allem, weil der Druck, gesund, innovativ, fortschrittlich und effektiv sein zu müssen, schon heute den meisten meiner Kommilitonen schlaflose Nächte bereitet. Bloß nicht zu Zeitarbeitsfirmen. Bloß nicht vom Staat abhängig sein. Achte auf Referenzen. Achte auf deine Absicherung. Achte auf private Rücklagen. Es kursieren nicht nur private oder berufliche Anforderungen, sondern zudem das Bestreben, aus Selbstverwirklichung und Versorgung familiäre Verantwortung zu destillieren. Diese Ungewissheit verspürt die Wirtschaft per se nicht. Sie ist aber mein Begleiter. Ein unausgesprochener Gefährte, der mir begegnet, wenn Passion oder Effizienz meine Entscheidungen kreuzen.

Wenn mein Vater fragt, was ich später beruflich machen möchte, dann antworte ich häufig, etwas in den Medien. Vielleicht ist das zu wenig, irgendwann. Vielleicht sind die Möglichkeiten zu viel. Aber meine Hand werde ich ausstrecken. Der Ungewissheit sei Dank.

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